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Buch
dtv.de – amazon.de – perlentaucher.de 9-2023 Systemsturz: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus – Von Kohei Saito – Der Kapitalismus ist nicht zukunftsfähig. Wenn wir glauben, die Welt durch nachhaltigen Konsum vor der Klimakatastrophe zu retten, betrügen wir uns selbst, sagt der japanische Philosoph Kohei Saito.

OHNE KAPITALISMUS IN DIE ZUKUNFT – Systemsturz – Wenn wir glauben, die Welt durch nachhaltigen Konsum vor der Klimakatastrophe zu retten, betrügen wir uns selbst. Das sagt der japanische Philosoph Kohei Saito. Denn der Kapitalismus ist nicht zukunftsfähig. Klar und überzeugend vertritt Saito die These: Nichts, was die Welt jetzt braucht, lässt sich innerhalb eines kapitalistischen Systems realisieren. Grünes Wachstum ist unmöglich. Was wir stattdessen brauchen? Einen neuen Kommunismus. Genauer gesagt: einen Ökosozialismus, der nicht auf Wachstum ausgerichtet ist, der das Produktionstempo herunterfährt und Wohlstand umverteilt. Schon Marx plädierte für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung. Und nur damit wird es uns gelingen, die Natur – unsere Lebensgrundlage – zu erhalten. Die bahnbrechende Neuinterpretation der Marx’schen Theorie von einer der aufregendsten jungen Stimmen der internationalen Philosophie – »Neoliberale Maßnahmen wie Deregulierung oder Beschneidung des Sozialstaats, mit denen das Wachstum angetrieben wurde, haben soziale Gräben und Instabilität hinterlassen. Warum sollen wir so weitermachen, unser ganzes Leben auf Arbeiten, Geldverdienen, Konsumieren ausrichten? Wir brauchen einen ›new way of life‹.«
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swr.de 9-2023 Kohei Saito – Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus – Buchkritik von Stefan Berkholz
Während der Corona-Pandemie wurde die Studie des 35-jährigen japanischen Philosophen Kohai Saito in Japan zum Bestseller. Die Klimakrise, so der Autor, sei mit dem jetzigen Wirtschaftssystem, dem Kapitalismus, nicht zu bewältigen. Der Kapitalismus ist Vergangenheit, Degrowth-Kommunismus die Zukunft. Ein kluges Buch, das zum Nachdenken anregt. „Eigentlich sollten Krisen Anlass dazu geben, in uns zu gehen“, gibt der japanische Philosoph Kohai Saito zu bedenken, und so lautete ja auch die Hoffnung unter Corona-Bedingungen: Wann, wenn nicht jetzt, könnte die Menschheit zu Einsichten gelangen, um demütiger, vernünftiger, zukunftsorientierter zu leben und im Einklang mit der Natur zu handeln. Also bescheidener, maßvoller, bewusster. Und? Wo befinden wir uns? In einem entfesselten Massentourismus, in dem so viel geflogen und verbraucht wird wie selten zuvor. In einer Autoproduktion, die ungebremst und gefördert große, schwere, schnelle Autos anpreist. In einer Wegwerfgesellschaft, die immer noch nicht auf Reparatur, sondern auf raschen Verschleiß baut. Grenzenloses Wachstum als Prämisse.
Keine Einsichten nach Corona: Die Menschen machen weiter wie bisher – Warum kommt es zu keiner Einkehr, geschweige denn Umkehr? Ist da nicht und wird weiter sein noch etwas, nämlich der Klimawandel, die Klimakrise, die Klimakatastrophe? Alles ist machbar, wird dem Menschen weiterhin eingetrichtert, er sei Herr über die Lage und Machthaber über die Natur. Kohai Saito, der japanische Philosoph und Professor, Hochschullehrer in Japan, 36 Jahre jung, macht auf diesen Irrweg aufmerksam: „Technologie als Ideologie ist ein Grund für die Fantasiearmut, die in der heutigen Gesellschaft um sich greift“, klagt Saito. Der Autor postuliert einen „Systemsturz“, so der Titel seiner Studie, die im Untertitel lautet: „Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“
Ist Degrowth-Kapitalismus die Lösung? – Die Quelle dieser erforderlichen Fantasie sei der „Degrowth-Kommunismus“ nach Karl Marx. Der japanische Wissenschaftler nimmt sich den Klassiker vor und zwar den späten Karl Marx, der sein Hauptwerk „Das Kapital“ nicht mehr beenden konnte, aber Notizen hinterlassen hat, Briefe, Skizzen, aus denen sich sein geistiger Wandel erkennen und analysieren lässt. Was meint: „Degrowth-Kommunismus“? Ein Kommunismus, der nicht mit dem Bürokraten- und Autokratensystem der Vergangenheit zu verwechseln ist, nichts mit Staatssozialismus und Diktatur des Proletariats zu tun hat. „Degrowth-Kommunismus“ meint, wie Kohai Saito ihn versteht: Gemeingut schaffen für alle grundsätzlichen Bedürfnisse des Menschen wie Energie, Wasser, Boden. Die Ursache des Klimawandels sei der Kapitalismus, schreibt Saito. Ressourcenverschleiß und „Zerstörung unter dem Primat des Wirtschaftswachstums“ verursachten den Klimawandel. Saito fordert „eine Vergesellschaftung großer Ölkonzerne, von Großbanken und digitaler Infrastruktur, kurz gesagt: Wir brauchen einen revolutionären Kommunismus.“
Hoffnung liegt auf globalen Netzwerken und Bürgerinitiativen – Seine Hoffnungen schöpft der Philosoph aus bestehenden (und weltweit zu knüpfenden) Netzwerken, kurz: einer sogenannten Bürgerverwaltung. Schließlich nennt er ein sogenanntes „Netzwerk der Fearless Cities“, dem mittlerweile 77 Städte weltweit beigetreten sind, auch in Afrika, Südamerika und Asien. In Europa verweist er auf Amsterdam und Paris: dort sind Vermietungen durch Airbnb eingeschränkt worden; in Barcelona wurden „mutige Infrastrukturreformen wie mehr Solarenergie oder Elektrobusse“ eingeführt, bemerkt Saito, zudem sei die Stadt mittlerweile als „Zentrum der Solidarwirtschaft“ anerkannt; in Grenoble wurden die Produkte multinationaler Großkonzerne aus den Schulkantinen verbannt. Und auch der allgemeine Widerstand gegen den Massentourismus, den Übertourismus, wächst mittlerweile an vielen Orten. Auf „Vertrauen und gegenseitige Hilfe“ baut Kohai Saito in seiner anregend und didaktisch klug aufgebauten Studie, auf „Selbstbestimmung“ und „globale Solidarität“ gar, kurz auf das, was er unter dem Begriff „Degrowth-Kommunismus“ bündelt. Das setzt ein anderes Menschenbild voraus, es wäre eine radikale Umstülpung der gegenwärtigen Ellenbogengesellschaft. Die Bequemlichkeit jedes Einzelnen müsste ebenso überwunden werden wie der Eigensinn, der Egoismus. Eine schöne Vorstellung, ein aufregendes Gedankenexperiment.
nd-aktuell.de 9-2023 Alles ist machbar – »Systemsturz«: Kohei Saito ist überzeugt, dass der Kapitalismus am Ende ist und nur ein »Degrowth-Kommunismus« die Menschheit errettet – von Stefan Berkholz
»Eigentlich sollten Krisen Anlass dazu geben, in uns zu gehen«, gibt der japanische Philosoph Kohei Saito zu bedenken. Und dies war auch die Hoffnung gerade unter Corona-Bedingungen: Wann, wenn nicht jetzt, könnte die Menschheit zu Einsichten gelangen, um demütiger, vernünftiger, zukunftsorientierter zu leben und im Einklang mit der Natur zu handeln. Also bescheidener, maßvoller, bewusster.
Und? Wo befinden wir uns? In einem entfesselten Massentourismus, in dem so viel geflogen und verbraucht wird wie selten zuvor. Und in einem Autowahn; ungebremst und gefördert werden große, schwere, schnelle Autos angepriesen. In einer Wegwerfgesellschaft, die immer noch nicht auf Reparatur, sondern auf raschen Verschleiß baut. Grenzenloses Wachstum als Prämisse. Warum kommt es zu keiner Einkehr, geschweige denn zur Umkehr? War da nicht noch etwas? Nämlich Klimawandel, Klimakrise, Klimakatastrophe? Solange die Menschen nicht von Überflutungen, Hitzewellen, Unwettern akut geplagt werden und direkt betroffen sind, solange wird – so scheint es – diese Entwicklung verdrängt und auf Teufel komm’ raus weitergemacht wie gehabt. Die Einflüsterungen von Entscheidungsträgern sind ja auch sehr verführerisch.
Technik ist machbar, Herr Nachbar! Alles ist machbar, wird dem Menschen weiterhin eingetrichtert, er sei Herr über die Lage und Machthaber über die Natur. Kohai Saito, Hochschullehrer in Japan, 36 Jahre jung, macht auf diesen Irrweg aufmerksam: »Technologie als Ideologie ist ein Grund für die Fantasiearmut, die in der heutigen Gesellschaft um sich greift«, klagt er. Und verweist auf den marxistischen Literaturkritiker Fredric R. Jameson, der vor rund vierzig Jahren bereits meinte, es sei inzwischen »einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus«. Kohai Saito postuliert einen »Systemsturz«, so der Titel seiner Studie, die im Untertitel lautet: »Der Sieg der Natur über den Kapitalismus«.
freitag.de 9-2023 „Systemsturz“ von Kohei Saito: Kapitalismuskritik auf Japanisch – Systemtheorie In Japan verkaufte sich Kohei Saitos Buch „Systemsturz“ eine halbe Million Mal. Das ist erstaunlich für eine marxistische Kampfschrift. Wie kommt dieser Hype zustande und: ist er berechtigt? Rezension von Paul Weinheimer
Wer in diesem Jahr in Tokio U-Bahn gefahren ist, hat es eventuell gesehen: Dort schaut einem ein junger Herr, Mitte 30, mit etwas resigniertem Blick von einem Plakat entgegen. Er heißt Kohei Saito, ist Professor für Philosophie und bewirbt darauf sein neues Buch. In Japan ist er so etwas wie ein marxistischer Superstar. Über eine halbe Million Mal hat sich sein 2020 erschienener Bestseller Capital in the Anthropocene bereits verkauft. Nun erscheint es auch in Deutschland, allerdings mit einem kampflustigeren Titel: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Für Saito ist es schon jetzt ein Riesenerfolg. 500.000 verkaufte Werke sind eine Seltenheit, vor allem für eine marxistische Kampfschrift. Wie kommt dieser Hype zustande und ist er berechtigt?
Wir befinden uns im Zeitalter des Kapitalozäns – Artensterben, Waldbrände, Überflutungen – die Liste der Zerstörungen durch den Klimawandel ist lang. Seit Beginn der Industrialisierung hat sich der Planet durch menschliches Einwirken um 1,1 Grad erhitzt, darin ist sich die Wissenschaft einig. Dafür macht Saito vor allem den globalen Norden und dessen „imperiale Lebensweise“ verantwortlich. Die Ausbeutung von Arbeitskräften und „geplünderten Rohstoffen des globalen Südens“ sei die Grundlage des Kapitalismus, worin sich gleichermaßen seine Dysfunktionalität zeige.
Auf der Welt gibt es heute mehr Nahrung als jemals zuvor. Das verdanken wir der intensiven Landwirtschaft und einer hoch effizienten Lebensmittelindustrie. Nun droht dieser Erfolg zur Gefahr für unser Ökosystem zu werden. Dirk Steffens und Marlene Göring haben rund um den Erdball recherchiert, wie im globalen Netz der Nahrung alles zusammenhängt. Mit dieser grundlegenden Analyse ist Saito nicht allein. Laut dem US-amerikanischen Historiker und Humangeografen Jason Moore befinden wir uns im Zeitalter des „Kapitalozäns“. Einer Epoche, die sich durch den starken Einfluss des Kapitalismus auf die Natur auszeichne. Und genau dort liege das Übel begraben, so sieht es Saito. Und auch im deutschen Diskurs gibt es Stimmen, die „das Ende des Kapitalismus“ ausrufen, wie zuletzt die Journalistin Ulrike Herrmann. Damit bringt sie auf den Punkt, um was es Saito in letzter Konsequenz auch geht: den Kapitalismus abzuschaffen.
Saito beeindruckt in den ersten Kapiteln seines Buches mit einer sehr soliden Zusammenfassung des Nachhaltigkeitsdiskurses und macht in verständlicher Sprache deutlich, wo er dabei steht. Für ihn gibt es kein grünes Wachstum, das den Kapitalismus retten kann. Das begründet er unter anderem am Beispiel der „wahren Kosten“ eines Elektroautos: Billige Arbeitskräfte und Raubbau im globalen Süden seien nötig, um die darin enthaltenen Lithium-Ionen-Batterien herzustellen. Nachhaltig sei das keineswegs. Das Hauptproblem liegt für ihn im Wirtschaftswachstum: Einen Green New Deal, wie ihn populäre Stimmen wie der Ökonom Jeremy Rifkin oder der US-Politiker Bernie Sanders fordern, lehnt Saito folglich ab.
Aus marxistischer Perspektive eine gewagte Position. Schließlich sind Wirtschaftswachstum und steigende Produktivität laut Marx essenziell für den Weg in eine klassenlose Gesellschaft. Dieses theoretische Problem löst Saito durch eine umständliche Exegese verschiedener Marx-Quellen. Ein Unterfangen, das für einen marxistischen Lesekreis erhellend sein mag, hier allerdings ins Leere führt. Auch wenn er plausibel darlegt, dass Marx über Jahre missverstanden wurde – unveröffentlichte Schriften zeigen ihn laut Saito als Vorreiter der Nachhaltigkeit –, fragt man sich: Welchen Mehrwert hat diese Erkenntnis? Die Dysfunktionalität kapitalistischer Wirtschaftsweise wurde schließlich schon ausführlich analysiert, nicht zuletzt von Theoretiker:innen, die Saito selbst im Vorfeld anführt.
Ein autoritärer Klima-Maoismus? – Um dem antagonistischen Verhältnis von Kapitalist:innen und Arbeiter:innen Auftrieb zu verschaffen, spricht Saito häufig von „dem Kapitalismus“ oder „dem Kapital“ („Wenn wir ihn (den Kapitalismus) nicht aus eigener Kraft stoppen können, bedeutet das das Ende der Geschichte der Menschheit“). Die Definitionsschärfe leidet an dieser Stelle zunehmend. Es hört sich so an, als verstecke sich hinter diesen Begriffen eine eigene Entität, so als habe man als Leser:in rein gar nichts mit diesem System am Hut. Ganz nach dem Motto: Kapitalismus, das sind immer die anderen. Mit hochtrabender Weltrettungs-Rhetorik verkündet Saito im vorletzten Kapitel seinen Vorschlag für das, was nach dem Systemsturz kommen soll: der „Degrowth-Kommunismus“.
Hier nennt er fünf zentrale Punkte: Hinwendung zu einer Gebrauchs- statt Tauschwirtschaft, Verkürzung von Arbeitszeit, Aufhebung von uniformer Arbeitsteilung sowie eine größere Wertschätzung für systemrelevante Berufe. Außerdem, und das ist Saito sehr wichtig, fordert er die Demokratisierung von Produktionsprozessen. Damit will er vor allem dem Vorwurf zuvorkommen, seine Vision könne in einen autoritären „Klima-Maoismus“ münden. Doch genau hier liegt eine Schwachstelle von Saitos Argumentation. Was, wenn nicht alle von Degrowth begeistert sind und lieber weiter dem Konsum frönen, statt sich mit „Gitarre spielen, Bilder malen oder lesen“ zufriedenzugeben?
Anders als die mit der britischen Kriegswirtschaft liebäugelnde Herrmann liefert Kohei Saito keine überzeugenden Vorschläge dafür, wie sein Degrowth-Kommunismus demokratische Mehrheiten finden soll. Neben der Stärkung von Gewerkschaften und Energiegenossenschaften plädiert er unter anderem für Bürger:innenversammlungen. Als Positivbeispiel zieht Saito die „Bürgerversammlung für das Klima“ (Convention citoyenne pour le climat) in Frankreich heran. Bürger:innen entwickelten dabei 150 Vorschläge für Klimaschutzmaßnahmen, die Saito vor allem für ihre Radikalität lobt. Dabei vergisst er allerdings, zu erwähnen, dass das Papier schlussendlich kaum politische Konsequenzen hatte.
Erschienen ist Saitos Werk während der Corona-Pandemie, sicherlich ein Grund für den Erfolg, denn im Zuge dieser fundamentalen Krise entpuppte sich die Marktlogik an vielen Stellen als völlig unbrauchbar. Ein ideales Zeitfenster, um daran zu erinnern, was Saito ohne Fragen deutlich macht: Ein „Systemsturz“ ist unausweichlich. Fraglich allerdings, ob dieser in friedlicher Einvernehmlichkeit dadurch erreicht wird, dass „die Bevölkerung den Konsum von Fleisch sowie die Anzahl ihrer Flüge“ reduziert.
literaturkritik.de 9-2023 Kapitalozän oder Anthropozän? In „Systemsturz“ rehabilitiert Kohei Saito Marx als Kritiker des Wirtschaftswachstums – Buchbesprechung von Thomas Schwarz
Der an der Berliner Humboldt Universität promovierte Philosoph Kohei Saito, der inzwischen an der University of Tokyo lehrt, hat 2020 auf Japanisch einen Bestseller lanciert, mit dem er in die Debatte über die Auswirkung der kapitalistischen Produktionsweise auf die katastrophalen Tendenzen des Anthropozäns eingreift. Nach Übersetzungen ins Koreanische und Englische liegt inzwischen auch eine deutsche Übertragung vor. Ausgangspunkt der Reflexionen Saitos ist die ‚große Beschleunigung‘ (Great Acceleration) nach dem Zweiten Weltkrieg, die Vielzahl exponentiell steigender Wachstumskurven, angeführt vom Anwachsen der Konzentration des Treibhausgases Kohlendioxid in der Erdatmosphäre. Saitos Buch macht für die Umweltkrise im Gefolge dieser Trends die „imperiale Lebensweise“ verantwortlich, die Massenproduktion und -konsumtion des globalen Nordens, die auf einer Ausbeutung der Menschen und der Natur des globalen Südens basiert: Es ist die Klasse der „obersten 10 Prozent der reichsten Menschen der Erde“, die für 50 Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich sind. Ihnen steht die Klasse der „unteren 50 Prozent“ gegenüber, die für „kaum 10 Prozent der Emissionen“ zeichnen. Sollten „die reichsten 10 Prozent ihre Emissionsmenge an die eines durchschnittlichen Europäers anpassen“, ließe sich der CO2-Ausstoß „um rund ein Drittel reduzieren“. Vor diesem Hintergrund benennt Saito unumwunden das „kapitalistische System mit seinem Streben nach unbegrenztem Wirtschaftswachstum“ als „Ursache für die Umweltkrise und den Klimawandel“.
Das Kapital muss sich zum Zweck der Akkumulation immer neue Märkte erschließen und lagert die in diesem Prozess anfallenden Umweltbelastungen in die Peripherie aus. Saitos Paradebeispiel für diese Externalisierung ist das Elektroauto. Das für die Batterie benötigte Lithium wird unter anderem in Chile gefördert. Dabei wird eine immense Menge an Grundwasser verbraucht, während zugleich der Zugang der vor Ort lebenden Menschen zu Süßwasser beschränkt wird. Im Kongo geht der Abbau von Kobalt nicht nur mit Umweltbelastungen einher, sondern auch mit Sklaven- und Kinderarbeit. Saito verwirft neben dem Neoliberalismus auch die Konzepte des „Green New Deal“, mit Konjunkturpaketen erneuerbare Energien und eine energieeffiziente Produktion beispielsweise von Elektroautos zu fördern. Dieser „Klima-Keynesianismus“ führe ebenfalls in die „Falle des Wirtschaftswachstums“. Der Autor bezieht Position gegen einen „linken Akzelerationismus“ und sein Versprechen eines „vollautomatisierten Luxuskommunismus“. Außerdem erteilt Saito dem Geoengineering, Negativemissionstechnologien zur Reduktion des Kohlendioxids in der Atmosphäre und dem Ausbau der Atomenergie eine Absage. Letztere ist für ihn der Prototyp einer „verriegelten Technologie“, die sich allein schon aus Sicherheitsgründen einer demokratischen Kontrolle entzieht. Unter Berufung auf den Klimaforscher Johan Rockström kommt Saito zu dem Schluss, dass der „Verzicht auf Wirtschaftswachstum“ die wirksamste Alternative wäre, um die CO2-Emissionen zu reduzieren. Der Verfasser fordert einen „großen Wandel hin zu einem postkapitalistischen Degrowth“, seine Version des „Kommunismus“.
Der rote Faden von Saitos Manifest ist eine Relektüre der Werke von Karl Marx. Ein Schlüsselbegriff seiner Marx-Interpretation ist die „Idee der Commons“, die Antonio Negri und Michael Hardt geprägt haben. Marx sprach im Kapital vom „Gemeinbesitz“. In Saitos Version handelt sich dabei um „gemeinschaftlich produzierte, organisierte und genutzte Güter, gesellschaftlich geteilte[n] und verwaltete[n] Reichtum“. Mit dem Konzept der Commons öffnet Saito einen „dritten Weg“, der aus den Sackgassen des Neoliberalismus und sowjetischer Verstaatlichungspolitik herausführen soll. Es überantwortet „öffentliche Güter wie Wasser und Strom, Wohnungsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung und Bildung“ einer demokratischen Selbstverwaltung.
Mit Marx gegen Produktivismus und Eurozentrismus Am gängigen Verständnis von Marx moniert Saito die Unterstellung, es handle sich bei ihm um einen Anhänger des „Produktivismus“ und des „Eurozentrismus“. Tatsächlich haben Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 ihrer Bewunderung für die kapitalistische Entfesselung der „Produktivkräfte“ und die „Unterjochung der Naturkräfte“ redegewandt Ausdruck verliehen. Saito zeigt allerdings, dass Marx zwei Jahrzehnte später im Kapital bei Justus von Liebig gelernt hat, was Raubbau bedeutet. Er macht darauf aufmerksam, dass der Chemiker die „Stoffwechseltheorie“ von Marx inspiriert hat. Dieser definiert Arbeit als „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“. Und weil das Kapital versucht, „in möglichst kurzer Zeit mehr Wert zu erwirtschaften“, derangiert es diesen Kreislauf. Offensichtlich denkt Marx in einer Logik von Zyklen, in denen Ökonomie und Ökologie aneinandergekoppelt sind. Das macht seine Theorie anschlussfähig an die Modelle der Earth System Science, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Sphären analysiert, von der Atmosphäre über die Hydrosphäre bis hin zur Biosphäre. Vor dem Hintergrund der disruptiven Auswirkungen menschlicher Aktivitäten im planetaren Maßstab auf dieses System erscheint das Anthropozän als Horrorvision mit apokalyptischem Potential.
Aus dem 18. Band der IV. Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), die 2019 unter Mitarbeit von Saito erschienen ist, kann der Verfasser einen ökosozialistisch denkenden Marx zitieren, der die kapitalistische Landwirtschaft kritisiert: Sie führt in den Worten von Marx zu einem „unheilbaren Riß“ im „Zusammenhang des gesellschaftlichen und natürlichen, durch die Naturgesetze des Bodens, vorgeschriebenen Stoffwechsels“. Als Konsequenz wird nicht nur die „Bodenkraft verwüstet“, sondern der Handel trägt „die Verwüstung weit über die Grenzen des eignen Lands hinaus“. Im ersten Band des Kapitals bezeichnet Marx diese Form der Agrikultur ironisch als „Fortschritt“, und zwar „in der Kunst, den Arbeiter“ und „den Boden zu berauben“. Saito kann deshalb mit gutem Recht bei Marx einen „klaren Bruch mit dem Produktivismus“ konstatieren. Im dritten Band des Kapitals kritisiert Marx die „Vergeudung der Bodenkräfte“ im Kapitalismus und plädiert für eine rationalere „Behandlung des Bodens als des gemeinschaftlichen ewigen Eigentums, der unveräußerlichen Existenz- und Reproduktionsbedingung der Kette sich ablösender Menschengeschlechter“. Saito liest die Passage als Forderung nach einer „nachhaltige[n] Verwaltung des Planeten Erde als Common“. Zusammenfassend erklärt der Autor, dass die „endlose Bewegung des Kapitals zum Zwecke der Wertvermehrung und natürliche Zyklen“ unvereinbar sind: „Das Resultat dieser Entwicklung ist das Anthropozän, und auch die fundamentalen Ursachen der heutigen Klimakrise lassen sich hier finden.“
Dass Marx auch mit einem eurozentrischen, an westeuropäischen Staaten orientierten Geschichtsbild gebrochen hat, demonstriert Saito anhand seines Briefes an Vera Sassulitsch. Die russischen Narodniki hatten gehofft, dass die Mir genannten Agrardorfgemeinschaften die Keimzelle für den Sturz des Zarismus bilden könnten. Bei der Ausarbeitung einer Antwort auf die Frage, ob Russland zwangsläufig eine kapitalistische Modernisierung über sich ergehen lassen müsse, ist Marx von der Vorstellung abgerückt, dass das „industriell entwickeltere Land“ dem „minder entwickelten“ das „Bild der eignen Zukunft“ zeige. In seiner Antwort erklärt Marx, dass seine Analyse im Kapital auf die „Länder Westeuropas beschränkt“ ist. Das Vorwort zur russischen Edition des Manifests von Marx und Friedrich Engels aus dem Jahr 1882 verweist auf die Option, dass das großflächig bestehende „russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen“ könnte.
Degrowth-Kommunismus auf der Basis von Commons – Beim späten Marx konstatiert Saito einen „epistemologischen Bruch“, der ihn zum Verfechter eines „Degrowth-Kommunismus“ gemacht habe. Er macht ihn an der Skizze einer Utopie der „kommunistischen Gesellschaft“ in der ‚Kritik des Gothaer Programms‘ von 1875 fest. In ihr sollen „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“. Saito besteht darauf, dass es ein Missverständnis wäre, diese Stelle als Befürwortung eines wachstumsorientierten Produktivismus zu interpretieren. Vielmehr handle es sich hier um einen Hinweis auf die Bedeutung von Commons für einen qualitativ anderen „radikalen Überfluss“. Dieser beinhaltet auch mehr Lebensqualität, zum Beispiel durch eine Verkürzung der Arbeitszeit, damit sich die Menschen nicht länger „zu Tode arbeiten“. Der Übersetzer merkt an, dass der von Saito an dieser Stelle verwendete Begriff, nämlich „Karoshi“ oder „Tod durch Überarbeitung“, ein Problem bezeichnet, mit dem sich nicht nur die arbeitende Bevölkerung in Japan, sondern auch in Korea und China auseinandersetzen muss.
Den Prozess, den Marx „ursprüngliche Akkumulation“ nennt, interpretiert Saito als einen Vorgang, der „künstliche Knappheit“ schafft. Die kapitalistische Aneignung der Allmenden habe das Ziel verfolgt, im Überfluss vorhandene „Commons wie Land und Wasser“ für die große Mehrheit der Menschheit zu verknappen. Die „Rekonstruktion der Commons“ dagegen erlaube es im 21. Jahrhundert, auf der Basis von „offenen Technologien“ wie Solarenergie und Windkraft einen „radikalen Überfluss“ zu realisieren.
Fukushima als Probe aufs Exempel für das revolutionäre Potential Japans – Zu den revolutionären kommunistischen Forderungen von Saito gehört die „Vergesellschaftung großer Ölkonzerne, von Großbanken und digitaler Infrastruktur“ (sprich: Google, Apple, Facebook und Amazon). Um in dem von Marx verheißenen „Reich der Freiheit“ anzukommen, gelte es, ein „System“ zu „zerschlagen“, das auf „endloses Wachstum“ ausgerichtet ist und „die Menschen zu überlangen Arbeitszeiten und schrankenlosem Konsum antreibt“. Das in Verbindung mit dem Aufruf zu Massenprotesten öffentlich zu verlangen, erfordert beträchtlichen Mut in einem Land, das so konservativ ist wie Japan. Umso erstaunlicher ist die positive Resonanz, die Saitos Manifest in der japanischen Leserschaft gefunden hat. Die Rede ist von einer halben Million verkaufter Exemplare, das sind bald vier Prozent der Bevölkerung Japans. Saito ist ein Anhänger der These, die von der Politologin Erica Chenoweth aufgestellt worden ist. Sie prognostiziert große gesellschaftliche Umwälzungen für den Fall, dass „3,5 Prozent der Menschen gewaltlos und entschlossen aufbegehren“. Wenn die Bereitschaft, sich lesend auf einen komplexen Gedankengang einzulassen, auch zu einer politischen Handlungsfähigkeit führte, die diesem entspricht, dann könnte am Ende Japan das Land sein, das anderen den Weg in die Zukunft weist. Vorläufig spricht dagegen, dass das de facto verstaatlichte Tokyoter Energieversorgungsunternehmen Tepco seit dem 24. August 2023 aus den Tanks der havarierten Reaktoranlage von Fukushima mit Tritium kontaminiertes Wasser in den Pazifik pumpen kann, ohne dass es in Japan zu nennenswerten Protesten gekommen wäre. Obwohl es auch Wissenschaftler gibt, die vor einer unzureichenden radiologischen und ökologischen Folgenabschätzung der Einleitung warnen, nimmt noch immer mehr als die Hälfte der japanischen Bevölkerung der Firma Tepco Presseerklärungen mit Sicherheitsversprechen ab. Würde man in Fukushima hingegen Saitos Vorschlag folgen, nicht nur Elektrizitätswerke, sondern die ganze damit in Verbindung stehende Infrastruktur, also auch die Reaktorruinen, als Commons auf lokaler Ebene von den Bürgern verwalten zu lassen, würden sich wohl die unmittelbar betroffenen Fischer von Fukushima mit einem „Nein“ durchsetzen.
Für eine Kopplung ökonomischer an ökologische Zyklen -Es wäre ein billiges Vergnügen, vom Verfasser dieses Buches ein elaboriertes politisches Programm mit konkreten Handlungsanweisungen zu erwarten. Er leistet die Arbeit eines Philosophen und führt den Klassenkampf mit klaren Worten in der Theorie. Für Saito kommt es darauf an, eine „imperiale[] Produktionsweise“ zu überwinden, so dass sich die „Produktion an den Naturkreisläufen ausrichtet“: „Eine an die Kreisläufe der Natur angepasste Produktion im Kapitalismus ist unmöglich, da er auf grenzenlosen Gewinn aus ist. Revolutionär ist daher nicht der Akzelerationismus, sondern der Deakzelerationismus“. In diesem auf Entschleunigung setzenden Gedanken liegt die theoretische Stärke von Saitos essayistischen Ausführungen, die so geschrieben sind, dass sie auch ein breiteres Publikum jenseits akademischer Zirkel ansprechen. Gut nachvollziehbar widerlegt der Autor die Annahme, dass Marx Anhänger eines eindimensionalen, linearen Fortschrittsdenkens auf der Grundlage einer rücksichtslosen Entwicklung der Produktivkräfte gewesen sei. Im Rückgriff auf Marx hat Saito überzeugend einen zentralen Widerspruch herausgearbeitet zwischen dem Drang des Kapitals, permanent seine Umschlagsgeschwindigkeit zu erhöhen, und natürlichen Reproduktionszyklen, die ihre eigene Zeit haben und auf ökologisches Recycling angewiesen sind.
Am Ende seines Buches diskutiert Saito die Frage, ob es nicht besser wäre, das Anthropozän einfach „Kapitalozän“ zu nennen. Schließlich sei es doch eindeutig „der Kapitalismus“, der „den Planeten zerstört“. Wenn es allerdings gelänge, die Erde mit einem „Systemsturz“ zu retten, könne man an der Bezeichnung Anthropozän auch festhalten – hoffentlich in einem „positiven Sinne“. Angemerkt sei noch, dass der Titel von Gregor Wakounigs deutscher Übersetzung eine beachtenswerte Ambivalenz birgt, die den Sphären des Erdsystems Handlungsfähigkeit zubilligt. Denn ein „Sieg der Natur“ vernichtender Art ist das, was einer kapitalistisch fortwurstelnden Menschheit im schlimmsten Fall droht. Die Natur könnte uns noch mit Blitz und Donnerschlag die Erkenntnis ihrer eigenen Agency einpauken, die ihr der Mainstream der abendländischen Philosophie gemeinhin abspricht.
welt.de 9-2023 Der Superstar des neuen Klima-Kommunismus Von Jakob Hayner
Wer im Bioladen kauft, seinen ökologischen Fußabdruck kontrolliert und eifrig Müll trennt, dem bleibt das Fegefeuer erspart? All das nennt Kohei Saito „Opium fürs Volk“. Der japanische Star-Marxist hat eine radikalere Vision, die in der Klimabewegung für Aufregung sorgt: „Systemsturz“…
telepolis.de 9-2023 Klima und Klassenkampf: War Karl Marx der erste Ökologe? Von Peter Nowak
“Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus” wurde zum Bestseller. Kohei Saito schlägt den Degrowth-Kommunismus vor. Was daran gewagt ist – und was fehlt. Als 2017 der Historienfilm “Der junge Marx” in die Kinos kam, waren manche über den Beginn erstaunt. Die erste Szene zeigt nämlich keine Arbeiter im Streik oder auf den Barrikaden, sondern Landarbeiter, die Fallholz im Wald sammeln, was damals als Diebstahl galt. Die Feudalherren, die sich den Wald angeeignet haben, ließen ihre Privatarmee auf die Menschen los, die im Wald Holz sammelten. Viele wurden schwer verletzt oder ermordet. Diese Szene bezog sich auf die Texte von Karl Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung über das Holzdiebstahlgesetz, das den Terror gegen die Landlosen, die das Holz zum Feuer machen sammelten, legitimierte. Diese Szene ist auf zweifache Weise interessant. Erstens wird der Blick auf die Tatsache gelenkt, dass Marx neben seinen Hauptwerk “Das Kapital” noch zu vielen anderen Themen arbeitete, las und schrieb. Zudem rückt mit der Szene im Wald auch das Thema Umwelt und Natur in den Fokus, das bisher kaum mit Marx und seinen Denksystem im Verbindung gebracht worden ist. Das liegt natürlich in erster Linie an den nominellen Sozialisten, die unter Berufung auf Marx eine riesige fossile Industrie errichteten und wenig Rücksicht auf den Schutz von Natur und Umwelt legten. Dabei konnten sie sich auf Textpassagen im “Kapital” berufen, vor allem in dem Band, der noch zu Lebzeiten von Marx erschienen ist.
Hat Engels die ökologische Komponente von Marx unterschlagen? Die Zusammenstellung für den zweiten und dritten Band erfolgte nach seinem Tod durch Friedrich Engels. Besonders bei der Konzeption des dritten Bandes gibt es unter Marx-Kennern schon lange eine Diskussion, ob Engels hier mehr seine eigenen Vorstellungen einbrachte als die von Marx. Der Streit darum begann schon Ende des 19. Jahrhunderts und wurde auch von den unterschiedlichen Flügeln der Arbeiterbewegung befeuert. In dem von Dieter Lehnert und Christina Morina herausgegebenen Buch “Friedrich Engels und die deutsche Sozialdemokratie” schrieb Jan Gerber: “Unter kritischen Marxistinnen und Marxisten des 20. und 21. Jahrhunderts ist es beliebt geworden, Engels für sämtliche Fehlgriffe des Marxismus verantwortlich zu machen”. Ist Engels etwa auch dafür verantwortlich, dass der ökologische Marx bisher nicht weltweit bekannt wurde? Das zumindest ist die These des japanischen Philosophen Kohei Saito, der das Buch “Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus” verfasst hat. In Japan und mittlerweile auch in vielen anderen Ländern wurde es schnell zum Bestseller.
Saito vertritt darin die These, dass Marx zu seinen Lebzeiten nicht mehr alle drei Kapital- Bände herausgebracht hat, weil er nach der Lektüre verschiedener naturwissenschaftlicher Texte eine ökologische Perspektive entwickelt hatte, die nicht mehr mit dem Lob auf die Entfaltung der Produktivkräfte im ersten Band übereinstimmte. Er sei aber nicht mehr dazu gekommen, seine neuen Erkenntnisse umzusetzen. Nach seinem Tod hätte Engels dann die zwei Bände des Kapitals in der alten Diktion veröffentlicht. Nun sollte man aber wissen, dass Engels auch sehr an den Naturwissenschaften interessiert war, der Thematik also nicht fremd gegenüberstand. Interessant wäre, ob es irgendwelche schriftlichen Belege dafür gibt, dass es zwischen Marx und Engels einen Dissens in der Bewertung der Fragen von Ökologie und Umwelt gab. Solche Belege werden in dem Buch nicht geliefert. Saito zeichnet aber noch einmal gut nach, dass sich Marx mit den Schriften des Chemikers Justus von Liebig und des heute wenig bekannten Biologen Karl Nikolas Fraas beschäftigte. Darüber hat Marx Aufzeichnungen hinterlassen. Vor allem John Bellamy Foster hatte vor einigen Jahren den ökologischen Marx popularisiert. Saito geht aber noch weiter und bezeichnet Marx als den ersten Degrowth-Kommunisten – ein Etikett, das er, wie er betont als erster benutzte.
Welche Rolle hätte Degrowth-Kommunismus in der Sowjetunion spielen können? Hinter diese These müssen schon einige Fragezeichen gesetzt werden. Es stimmt auf jeden Fall und ist auch schon länger bekannt, dass Marx sich im letzten Lebensabschnitt mit Fragen von Natur und Umwelt intensiv befasst hat. Dass er dann aber zu Antworten gekommen sein soll, die – wie der Degrowth-Kommunismus – erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, muss doch bezweifelt werden. Hier geht Saito wenig materialistisch davon aus, dass Modelle, die als Ausweg für eine hoch entwickelte Industriegesellschaft diskutiert werden, schon im Frühkapitalismus ihre Bedeutung gehabt haben sollen. Welche Wirtschaft aber sollte in einer Zeit geschrumpft werden, als der Kapitalismus noch in den Anfängen stand? Und welche Bedeutung hätten solche Konzepte des Degrowth-Kommunismus in der frühen Sowjetunion, wo eine Industrialisierung auch ein wichtiger Schritt aus der Armut der breiten Masse war? Saito übersieht auch völlig, dass in der frühen Sowjetunion auch durch massive Angriffe der mit dem kapitalistischen Ausland verbündeten Gegner der Revolution zu Schrumpfungen der Wirtschaft kam. Es war aber eine Schrumpfung wider Willen, die zur drastischen Verarmung großer Teile der Bevölkerung führte. Das wiederum führte dazu, dass in der frühen Sowjetunion der Kriegskommunismus der ersten Jahre durch die “Neue ökonomische Politik” ersetzt würde, mit der zunächst wieder kapitalistische Elemente eingeführt wurden. Es wäre auf jeden Fall interessant, wie in diesen Kontext ein Degrowth-Kommunismus ausgesehen hätte.
Bürgerräte und Klimanotstand: Ist das schon Degrowth-Kommunismus? – Nun könnte man denken, Saito konzentriere sich eben mehr auf die Frage, wie der Degrowth-Kommunismus heute aussehen kann. Schließlich ist ein Kapitel mit “Der Degrowth-Kommunismus rettet die Welt” überschrieben. Doch auch da folgt eine Enttäuschung. Der Autor erklärt nicht, ob er die aufgelisteten Forderungen nach Bürgerräten – wie in Frankreich praktiziert – oder die Ausrufung des Klimanotstands in Barcelona schon als Degrowth-Kommunismus bezeichnet. Dabei könnte man allerhöchstens von Übergangsforderungen sprechen, durch die größere Bevölkerungsteile merken, dass es im Kapitalismus keine Lösung gibt. Doch was im Buch fehlt, ist eine kommunistische Strategie und Taktik, die verhindert, dass die Bürgerräte – wie in Frankreich – einfach ignoriert werden, oder das im Buch hoch gelobte Modell Barcelona nach dem Wahlen von konservativen Parteien wieder abgewickelt wird. Es besteht eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der im ersten Teil mit Verve begründeten Option des Degrowth-Kommunismus und den reformerischen Vorschlägen im Anschluss. Ein Schwachpunkt ist auch, dass die Lohnabhängigen in diesem Buch nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Sicherlich finden sich in den von Saito vorgestellten fünf Säulen zum Degrowth-Kommunismus sinnvolle Forderungen, etwa nach Verkürzung der Arbeitszeit, demokratischer Kontrolle des Produktionsprozesses im Betrieb und einer Gebrauchswertwirtschaft, die sich an den Grundbedürfnissen der Menschen orientiert. Doch über die Organisierung der Lohnabhängigen, die zur Umsetzung dieser Forderungen nötig wäre, liest man nichts. Vielleicht liegt das auch daran, dass sich Saito mehrmals positiv auf den Ökosozialisten Andre Gorz bezieht, der in den 1970er-Jahren mit dem Bestseller “Abschied vom Proletariat” bekannt und auch bei den Grünen der ersten Jahre viel rezipiert wurde. Doch ein Degrowth-Kommunismus müsste gerade nicht Abschied vom Proletariat nehmen, sondern – im Gegenteil – eine transnationale Organisierung des Proletariats anstreben, wie die Regisseurin Johanna Schellhagen in ihren Film “Der laute Frühling”. Dieser Film ist ein Diskussionsangebot an die Klimabewegung, weil er die Möglichkeiten gemeinsamer Aktionen von Lohnabhängigen und Klima-Aktivisten aufzeigt. Aber auch Saitos Buch ist ein wichtiges Diskussionsangebot an die Klimabewegung. Ein großer Pluspunkt für das Werk besteht darin, dass Saito seine Thesen in einer gut verständlichen Sprache ausdrückt, die auch von Menschen verstanden wird, die noch nie einen Marx-Text gelesen haben. Kohei Saito begründet auch sehr gut, warum es keinen grünen Kapitalismus geben kann. Auch seine Kritik am Akzelerationismus, einer technikbegeisterten Strömung, ist sehr gelungen. So könnte der größte Erfolg des Buches darin bestehen, dass sich wieder Klimaaktivisten mit Karl Marx und den Kommunismus beschäftigen. Wie der Degrowth-Kommunismus dann aussieht, wird dann von ihnen und ihren Kämpfen abhängen.
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wohlstandfueralle.podigee.io 9-2023 Kohei Saito und der Degrowth-Kommunismus
Der japanische Marxist Kohei Saito ist der neue Star unter den Kapitalismus-Kritikern: Sein Bestseller „Systemsturz“ geht nicht nur hart ins Gericht mit MMT, Klimakeynesianismus, bürgerlichen Degrowth-Befürwortern und liberalen Klimaschützern, er fordert nichts anderes als einen Degrowth-Kommunismus. Der Kapitalismus führe in die Klimakatastrophe, dabei ist es unerlässlich vom BIP-Wachstum loszukommen. Viele würden jedoch bei einer Kritik an Konsumenten und deren Lebensweisen verharren, Saito hingegen kritisiert die Produktionsweise. Was ist dran an diesem Konzept, das nicht zuletzt eine neue Lesart der Marx’schen Schriften vorschlägt. Fortschritt und Produktivismus waren für den jungen Marx wichtig, aber Saito meint: Der späte Marx hat sich davon verabschiedet. Mehr dazu von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt in der neuen Folge von „Wohlstand für Alle“.
akweb.de 8-2023 »Wir brauchen eine neue Art des Überflusses« – Der japanische Philosoph Kohei Saito über seine Verbindung von Degrowth, Marx und Kommunismus – Interview: Guido Speckmann
Der Bestseller des japanischen Ökomarxisten Kohei Saito liegt nun in deutscher Sprache vor. Ob das Buch mit dem deutschen Titel »Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus« auch hierzulande reißenden Absatz findet, wird sich zeigen. Eines steht aber jetzt schon fest: Um eine Antwort auf die Klimakrise zu finden, wird die Linke über den Degrowth-Kommunismus diskutieren müssen.
Du schreibst in deinem Buch »Systemsturz«: »Degrowth mit Marx? Ist der denn noch bei Trost?« Ich kenne deine vorherigen Bücher, in denen du Marx ökologisch interpretierst. Dennoch stellte auch ich mir diese Frage. Wie kommst du zu deiner These des Degrowth-Kommunismus?
Kohei Saito: Ich bin mir durchaus bewusst, dass der Degrowth-Kommunismus kein sehr verbreitetes Verständnis von Marx’ Utopie des Sozialismus ist. Auch habe ich in der Vergangenheit nicht explizit über Degrowth geschrieben oder diese Idee akzeptiert, weil ich aus einer marxistischen Tradition komme. Ich hegte Sympathien für Green-New-Deal-Vorschläge, die darauf zielen, die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter*innenklasse mit Klimapolitik zu verbinden. Erst durch die Verschärfung der Klimakrise habe ich erkannt, wie ernst diese tatsächlich ist. Und ich war sehr beeindruckt von Greta Thunberg und sozialen Bewegungen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion oder Just Stop Oil. Sie stehen für mehr als nur Investitionen in grüne Technologien und nachhaltiges Wachstum. Mir wurde klar: Die Klimakrise ist so gewaltig, dass wir ganz andere Lösungen brauchen als die, die selbst in der Linken für selbstverständlich gehalten werden. Auch dort glaubt man immer noch – siehe zum Beispiel die Zeitschrift Jacobin – an das Märchen vom ewigen Wachstum, das Thunberg immer wieder scharf kritisiert hat.
Zugespitzt formuliert: Ohne Thunberg und den Fridays also kein Degrowth-Kommunismus? Sie waren ein Anstoß, und dann bin ich wieder zu Marx zurückgekehrt, habe seine Manuskripte und Notizbücher gelesen. Mir wurde klar, warum er nichtwestliche Gesellschaften studierte, warum er von den russischen Dorfgemeinschaften so fasziniert war. In meiner früheren Arbeit hatte ich mich nur mit seinen naturwissenschaftlichen Notizbüchern beschäftigt. Aber als ich diese beiden Themen miteinander verband, erkannte ich, dass Marx nicht so optimistisch war, was die technische Entwicklung und die Entwicklung der Produktivkräfte anging. Und er akzeptierte auch die Idee einer eher stationären Wirtschaft. Und so begann ich, die These des Degrowth-Kommunismus zu entwickeln. Die Klimakrise ist so gewaltig, dass wir andere Lösungen brauchen als die, die selbst die Linke für selbstverständlich hält.
Ein Aspekt des Degrowth-Kommunismus ist, dass er Überfluss schafft, während der Kapitalismus für Knappheit sorgt. Könntest du das erläutern? Die Befürworter*innen von keynesianischen Green New Deals sprechen von der Schaffung neuer Arbeitsplätze, neuer Technologien etc. Dadurch werde die Armut überwunden und der Lebensstandard für alle gesichert. Das klingt gut, ist aber eine sehr kapitalistische Art, über Entwicklung und Fortschritt nachzudenken. Wenn wir beides aus einer antikolonialen und antiimperialistischen Perspektive aus betrachten, dann bedeutet Fortschritt und Entwicklung auch mehr Ausbeutung von Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen, dann geht sogenanntes grünes Wachstum mit Unterdrückung und Umweltzerstörung einher. So kam ich zu der Erkenntnis, dass wir tatsächlich eine neue Art von Überfluss brauchen.
Wie soll dieser aussehen? Es geht nicht darum, mehr Materialien zu verbrauchen, mehr Produkte zu konsumieren, nicht um mehr Geld. Es geht darum, gemeinschaftliches Kulturwissen zu bereichern, darum, etwas zu teilen; Menschen empfinden dann Freude und Glück. Neue Arten von Reichtum können auf Gemeinschaft und auf dem Teilen basieren, ich nenne es Commons, es ist der Reichtum des Gemeinwesens.
Das klingt abstrakt … Konkret: Wir können uns entspannen oder neue Dinge lernen, wir können Bücher lesen oder Sport treiben. All das steigert unser Wohlbefinden. Zudem wird die Bindung zu anderen Menschen und das Gemeinschaftsgefühl verbessert, ohne den Planeten zu zerstören. Das ist die neue Art von Überfluss, nach der wir streben sollten.
Wie unterscheidet sich dieser Überfluss vom alten, kapitalistischen? Im Kapitalismus geht es darum, Dinge zu monopolisieren, für sich selbst und vielleicht noch für die Familie oder Freund*innen, aber im Grunde sehr individualistisch. Das führt zu Stress und Wettbewerb. Wir kaufen Dinge, wollen bald aber wieder neue haben, weil wir sie in der Werbung gesehen haben. Wir sind also nie zufrieden – und das ist schlecht für die Umwelt.
Du gehst in deinem Buch auf soziale Bewegungen ein, die »die Saat des Degrowth-Kommunismus in sich tragen«. Welche sind das? Fridays for Future ist natürlich ein Beispiel. Aber auch die danach entstandenen radikaleren Bewegungen wie Extinction Rebellion. Sie plädiert für eine Dekarbonisierung bis 2025 und dafür, wirtschaftliche Aktivitäten zu stoppen, bis eine Versammlung abgehalten wird, wie diese Dekarbonisierung bis 2025 zu erreichen ist. Sie sagen nicht, dass wir nur in erneuerbare Energien investieren sollten – und alles ist gut. Vielmehr müssen gerade wir im Globalen Norden unsere derzeitige Lebensweise radikal ändern. Und das ist kompatibel mit Degrowth-Ideen. Die Saat des Degrowth-Kommunismus tragen auch die Menschen in sich, die sich in Großbritannien bei Just Stop Oil oder in Frankreich gegen den Bau von industriellen Wasserspeichern engagieren. Das sind meist radikale Ökologinnen, die den Übergang vom kapitalistischen System des ewigen Wachstums hin zu einer ökologischeren Gesellschaft fordern, die tatsächlich auf Degrowth basiert. In Deutschland sehe ich Beispiele bei Ende Gelände oder bei Klimaaktivistinnen, die die Reifen von SUVs zerstören.
Aber brauchen wir nicht auch Investitionen in Solar- und Windenergie? Natürlich brauchen wir Investitionen in grüne Energien und Elektrofahrzeuge, aber gleichzeitig sollten wir unsere imperiale Lebensweise viel radikaler infrage stellen. Wir sollten große Autos, kurze Inlandsflüge und den individuellen Autoverkehr in Städten verbieten. Das ist mit Degrowth vereinbar und auch antikapitalistisch. Marxistinnen sollten von diesen Bewegungen lernen und sich mit der Degrowth-Tradition auseinandersetzen, anstatt zu argumentieren, dass mehr Entwicklung gut für die Arbeiterinnenklasse sei.
Du unterscheidest zwischen einer alten und einer neuen Degrowth-Bewegung. Was sind die Differenzen? Wenn ich von der alten Wachstumskritik spreche, meine ich hauptsächlich den Franzosen Serge Latouche. Er hat viele Verdienste, aber das Problem ist: Er spricht nicht ausdrücklich von der Überwindung des Kapitalismus. Herman Daly, ein weiterer »alter« Wachstumskritiker, schreibt zwar von einer »steady state economy«, aber nicht davon, das Marktsystem infrage zu stellen. Das hat auch damit zu tun, dass insbesondere nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre die sozialistische Perspektive sehr unpopulär war. Daher vermied es die Wachstumskritik, von Sozialismus oder Kommunismus zu sprechen. Das hat sich jedoch etwas geändert, insbesondere bei »jüngeren« Degrowth-Vertreter*innen wie Giorgos Kallis oder Jason Hickel. Sie kritisieren explizit den Kapitalismus, Kallis spricht neuerdings von ökosozialistischem Degrowth. Und auch die genannten Bewegungen fordern eine Wachstumsrücknahme und sind eher antikapitalistisch. In der Realität gibt es also eine Verschmelzung von kommunistisch-sozialistischer und Degrowth-Tradition. Und das versuche ich zu verbinden.
Lass uns über das marxistische Spektrum sprechen. Wie wird dort über Degrowth gedacht? Generell ist der Marxismus immer noch sehr produktivistisch und technikoptimistisch. Viele Marxistinnen glauben, dass Degrowth und die Interessen der Arbeiterinnenklasse unvereinbar sind. Aber die Radikalisierung der Umweltbewegungen zwingt den Marxismus dazu, diese Annahmen zu überdenken. Und die Linke interessiert sich in der Tat mehr für Wachstumskritik. Jüngstes Beispiel ist die Ausgabe der marxistischen US-Zeitschrift Monthly Review zum Degrowth.
Du argumentierst, dass der Ökosozialismus keine ausreichende Option zur Bewältigung der Klimakrise ist. Warum? Ökosozialismus ist ein Sammelbegriff, unter den ich auch den Degrowth-Kommunismus fassen würde. Das Problem ist, dass es Ökosozialistinnen wie David Schwartzman gibt, die für einen Solarkommunismus plädieren. Die Idee dahinter: Wenn wir ausreichend in Solarenergie investieren, können wir kostenlosen Strom von der Natur bekommen. Wir können also auf sozialistische Art und Weise massiv wachsen. Diese Ökosozialistinnen interessieren sich für ökologische Fragen und kritisieren auch den Kapitalismus. Aber das Problem ist, dass sie zu optimistisch sind, was das Potenzial der Technologie angeht. Sie gehen davon aus, dass, sobald der Kapitalismus überwunden und alles vergesellschaftet ist, die Technologie frei und für alle zugänglich wird. Dann wäre nachhaltiges Wachstum möglich. Ich glaube nicht daran.
Marxist*innen sollen also von der Wachstumskritik lernen. Aber sie allein reicht nicht aus, lautet dein Argument. Wir bräuchten Marx. Warum? Seine Kapitalismuskritik liefert uns nicht nur eine solide Grundlage dafür, warum der Kapitalismus schlecht ist, warum er nicht grün sein kann, sondern Marx zeigt auch, welche Art von Gesellschaft wir anstreben sollten. Der gegenseitige Dialog und Lernprozess von Degrowth und Marxismus kann also sehr fruchtbar und produktiv sein.
Letzte Frage: Wieso ist Degrowth auch im Interesse der Arbeiter*innenklasse? Wir müssen, wie eingangs erläutert, den Überfluss neu definieren und zum Beispiel kürzere Arbeitszeiten fordern. Das ist nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch für die Arbeitenden, denn gerade in Ländern wie Japan machen die Beschäftigten Überstunden ohne Ende. Wir müssen neu definieren, was sozialistische Politik fordern sollte. Dazu müssen wir aber zunächst von der Wachstumskritik lernen. Wir müssen unser stereotypes, negatives Bild von Degrowth ändern. Es geht eben nicht darum, arm zu werden oder unsere Bedürfnisse einzuschränken. Deshalb bin ich froh, dass immer mehr Menschen versuchen, ein breiteres Bündnis von sozialen und ökologischen Bewegungen aufzubauen, weil wir keine Zeit haben, innerhalb des kleinen marxistischen Kreises zu diskutieren und uns zu kritisieren. Und ich hoffe, dass sich die Arbeiter*innenklasse dem Bündnis anschließen wird. Dann wird es eine neue sozialistische Bewegung im 21. Jahrhundert geben.
deutschlandfunkkultur.de – 8-2023 Karl Marx als Kronzeuge der Grünen – Kohei Saitos marxistische Kritik am Kapitalismus in der Klimakrise hat in Japan einen Nerv getroffen. Mit seinem Buch „Systemsturz“ zeigt er einen ungewohnten Blick auf Marx, der bei ihm als möglicher Kronzeuge der Grünen erscheint. Von Martin Tschechne
Es war die Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011, die den Japaner Kohei Saito auf so etwas aufmerksam machte wie den sprichwörtlichen Elefanten im politischen Diskurs – auf ein Phänomen also, das so überdeutlich im Raum stand, dass niemand es zu sehen schien. Wie kommt es, so fragte sich der damals gerade 24 Jahre alte Student der Philosophie in Berlin, wie kommt es, dass kaum jemand auf die sehr direkte Verbindung hinweist zwischen den immer brutaler zutage tretenden Problemen der Ökologie – dem Klimawandel, der rücksichtslosen Ausbeutung von Ressourcen, den Ozeanen voller Müll – und der gemeinsamen Ursache all dieser Erscheinungen, nämlich dem kapitalistischen Wirtschaftssystem?
„Wir arbeiten zu viel. Wozu?“ Saitos Buch wurde also durch ein Ereignis in Japan angestoßen, nahm jedoch seinen Anfang in Europa. In der japanischen Heimat des jungen Wirtschaftstheoretikers schoss es dennoch – oder vielleicht gerade wegen dieser doppelten Perspektive – förmlich durch die Decke: Mehr als 500.000 verkaufte Exemplare eines bis dahin völlig unbekannten Autors.
Den Erfolg begründete der im Gespräch mit der italienischen Zeitung La Repubblica sehr selbstbewusst: Seine Folgerungen lägen einfach auf der Hand: „Wir arbeiten zu viel. In Japan muss alles 24 Stunden geöffnet haben, sieben Tage die Woche – wozu? Wir können das zurückfahren: die Convenience Stores, Mode zum Wegwerfen, Fast Food. Wir können Privatjets verbieten, die kurzen Inlandsflüge, und die luxuriösen Kreuzfahrtschiffe einschränken, die SUVs, den Fleischkonsum reduzieren und so weiter.“ In Berlin war Saito auf die Schriften von Karl Marx gestoßen, war tief eingetaucht in die Forschung und fand sogar Aufnahme in das Herausgebergremium der großen Marx-Engels-Gesamtausgabe. Er wusste um die Prämissen der kapitalistischen Wirtschaft. Und ahnte wohl, welchen Mut es braucht, sie in Frage zu stellen. Er tut es trotzdem, mit Sätzen wie diesem: „Das Wirtschaftswachstum der Moderne versprach uns ein Leben im Wohlstand. Jedoch wird durch die Umweltkrise des Anthropozäns klar, dass es ironischerweise gerade das Wirtschaftswachstum ist, das die Grundlagen des menschlichen Wohlstands untergräbt.“
Vergessene Notizen von Karl Marx entdeckt – Wachstum ist das Elixier des Kapitalismus. Nur Wachstum vergrößert das Kapital. Bleibt es aus, ist Rezession die Folge: eine dramatische Vertiefung der sozialen Ungleichheit, Absturz der Mittelschicht, Arbeitslosigkeit und Radikalisierung. Umkehr aber, sinnvolle Reduktion – so etwas war in der Theorie einfach nicht vorgesehen. Und damit könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein.
Ist sie aber nicht. Karl Marx mag nach den Irrungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts abgeschrieben worden sein, seine beinahe wie ein Naturgesetz respektierte Lehre von der Dynamik des Kapitals als untauglich abgehakt – Saito hält ihm die Treue. Der Mann sei einfach missverstanden worden: „Marx hatte mit dem Kommunismus eigentlich niemals eine staatlich verwaltete Einparteiendiktatur im Sinn. Für ihn bedeutete Kommunismus eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel von den Produzenten gemeinsam verwaltet werden. Doch nicht nur die Produktionsmittel, die ganze Erde sollte nach Marx’ Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft gemeinsam verwaltet werden.“ In den Archiven war Saito auf bislang unbekannte Notizen gestoßen. Marx war gestorben, bevor sie veröffentlicht werden konnten; seine Nachfolger glaubten, darin nur eine Verfälschung der reinen Lehre zu erkennen – denn er hatte ganz unerwartete Zweifel an seiner eigenen Formel geäußert: Sollten die Produktivkräfte des Kapitals sich tatsächlich ebenso gut zur Befreiung der Arbeiterklasse nutzen lassen? Nein, so notierte er nun, nachdem er den Kontakt zu den Naturwissenschaften gesucht und sich in ihre Befunde vertieft hatte: Die Natur werde dem fortgesetzten Raubbau durch das Kapital ihre Grenzen setzen.
Keinen Respekt vor niemand – Die Entdeckung war eine Sensation. Und Saitos Leser lernen einen ganz neuen Karl Marx kennen. Einen nämlich, der mit „Gemeinschaft“ auch wirklich die Gemeinschaft meint und nicht, wie es unter Berufung auf seinen Namen immer wieder geschah, eine selbst ernannte Kaste der Nomenklatur, die das Volk unter Berufung auf eine Ideologie unterdrückt. Saito rückt das Bild wieder gerade – und erlaubt sich sogar noch den Spaß, seine Leser, vor allem die aus der gebildeten Mittelschicht, einfach mal mit dem neuen Marx zu konfrontieren: „Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung? Benutzen Sie nun auch eine eigene Einkaufstasche, um den Verbrauch von Plastiktüten zu reduzieren? Sind Sie auf ein Elektroauto umgestiegen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Diese guten Absichten alleine sind sinnlos. Das Kapital heuchelt uns Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Greenwashing auch noch herein.“ Nein, Respekt kennt der junge Überflieger nicht. Nicht vor seinen Lesern, die gewiss immer nur das Beste wollen, nicht vor den Sachzwängen einer beständig drängenden Wirtschaft, und auch nicht vor den Doktrinen der Ökonomie – dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, dem Green New Deal, also dem vorgeblichen Umschalten der Produktion auf Nachhaltigkeit. Augenwischerei, sagt er. Reförmchen zur Erhaltung des Systems. Marx sprach vom „Opium für das Volk“. Haben wir das alles schon gehört? Vielleicht so ähnlich. Aber vielleicht nicht vor einem theoretischen Hintergrund, der die ewigen Verbote ersetzt durch Einsicht und eigenes Interesse. Karl Marx als Kronzeuge der Grünen: Das wäre mal ein spannender Beitrag zur Umweltdebatte.
sueddeutsche.de 8-2023 “Zum Rückfall in die Barbarei verdammt” – Das extrem kapitalismuskritische Buch “Systemsturz” des linken japanischen Philosophen Kohei Saito verkaufte sich in Japan eine halbe Million Mal. Jetzt erscheint es auf Deutsch. Taugt es etwas? – Von Jens-Christian Rabe
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