Inflation ist tot Thomas Straubhaar

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Die Inflation ist tot – und das sind die neuen Spielregeln für unser Geld   Von Thomas Straubhaar    22.12.2020

Inflation und Sex haben eines gemeinsam: Auf Titelseiten garantieren sie immer Aufmerksamkeit. Das weiß natürlich auch der „Economist“ – das weltweit wohl renommierteste Wirtschaftsmagazin –, Pflichtlektüre für alle, die mit Finanzen, Risiken und Renditen zu tun haben.

In Zeiten, in denen neben der Pandemie alle anderen Themen zu medialen Nebensächlichkeiten verkümmern, wurde Mitte Dezember die Frage „Wird die Inflation zurückkehren?“ auf das Cover der Londoner Wochenpublikation gesetzt. Um schon einmal alle Aufregung zu beruhigen – hier gleich die Antwort der Briten: „Ein Anstieg der Inflation ist unwahrscheinlich.“

Wenn also sogar eine akribische Suche nach Spuren steigender Preise und drohender Geldentwertung erfolglos bleibt, muss am Argument etwas dran sein, dass die Inflation tot sei. Eine Erwartung, die – nach Recherche des „Economist“ – nicht nur von den meisten Ökonomen geteilt wird.

Finanzmärkte erwarten eher Deflation
Auch die Realität zeigt weit und breit keine Indizien für einen bedrohlichen Kaufkraftverlust des Bargeldes. Wie sonst wäre zu erklären, dass auf den Finanzmärkten, die ja bekanntlich alle verfügbaren Informationen effizient verarbeiten sollten, kaum jemand für die 2020er-Jahre auf hohe Inflationsraten setzt.

Vielmehr sind Anleger bereit, deutsche zehnjährige Bundesanleihen zu leicht negativen nominalen Zinssätzen (von minus 0,5 Prozent im zweiten und dritten Quartal 2020) zu zeichnen. Das spricht eher für Deflations- als Inflationserwartungen der Finanzmärkte. Seit der Finanzmarktkrise in den Nullerjahren und seit Anfang der 2010er-Dekade im Euro-Raum rapide steigende Staatsschulden die gemeinsame Währungsunion infrage stellen, gehören Inflationswarnungen zum Dauerbrenner im Kampf um Aufmerksamkeit.

Es könne gar nicht anders sein, als dass die „Whatever it takes“-Rhetorik der Zentralbanken und die enorm aufgeblähten Geldmengen früher oder später zu steigenden Preisen führen müssten, heißt es. Die Wirklichkeit allerdings hat bisher alle Inflationserwartungen widerlegt.

Die durchschnittliche jährliche Veränderungsrate der Verbraucherpreise betrug in den vergangenen zehn Jahren von 2009 bis 2019 im Euro-Raum gerade einmal 1,25 Prozent, in Deutschland 1,3 Prozent. Am aktuellen Rand – also im Herbst 2020 – sanken die Verbraucherpreise sogar leicht und lagen nach Angaben des Statistischen Bundesamts im November um 0,3 Prozent niedriger als im Vorjahresmonat.

Die alten Theorien taugen nicht mehr
Jetzt lässt sich argumentieren, dass gerade in Corona-Zeiten die Staatsaktivitäten aus dem Ruder laufen. Die Budgetdefizite explodieren förmlich, was die öffentlichen Schulden weit jenseits jeder bislang als vernünftig bewerteten Grenze ansteigen lässt. Niemand kann voraussagen, wo das enden wird.

Denn für ähnliche Entwicklungen fehlen historische Erfahrungen – und da, wo Zentralbanken in der Vergangenheit die Staatshaushalte direkt monetär finanziert haben, war in der Tat eine Geldentwertung der Preis, der dafür langfristig zu bezahlen war. Ob sich Geschichte wiederholt, wird sich zeigen. Aber aus heutiger Sicht gibt es dafür keine Anzeichen – zumindest momentan nicht.

Die Ära der endlosen Schulden kennt nur einen radikalen Ausweg
Erkennbar wird lediglich, dass die alten Theorien nicht mehr taugen, um verlässliche Inflationsprognosen zu machen. Es bestätigt sich die geistes- und sozialwissenschaftliche Weisheit, dass jede Theorie ihre Zeit hat, in der sie verlässlich erklären und voraussagen kann, was in der Praxis vorgeht.

Wenn aber Menschen und Gesellschaften ihre Einstellungen, Verhaltensweisen und Erwartungen im längerfristigen Verlauf verändern und wenn neue Technologien verfügbar werden, dann sind neue Theorien erforderlich, um einer neuen Wirklichkeit gerecht zu werden.

Der Monetarismus, der die dominante geldpolitische Ideologie der vergangenen Jahrzehnte prägte, hat seine Voraussagekraft komplett verloren. Sein Credo lautete: Wenn Zentralbanken heute zu viele neue Geldnoten säen, werden sie morgen Inflation ernten. Seit Dekaden pochen Monetaristen mantraartig auf diese Logik.

„Das Beste wäre, wenn man jene Schulden, die bei der EZB liegen, einfach streicht“
Seit Jahren liegen sie damit falsch. Monetaristische Theorien vermögen lange schon nicht mehr überzeugend vorauszusagen, ob, wann und wie stark eine Geldentwertung die Folge sein wird für die von der EZB getätigten Aufkäufe von Anleihen.

Und selbst die zur Rettung des Monetarismus ins Feld geführte Feststellung, dass entgegen der ursprünglichen Festlegung sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes verringert habe, hilft nicht weiter. Denn damit wird lediglich bestätigt, was ganz offensichtlich Sache ist, nicht aber überzeugend erläutert, wie sich das mit monetaristischen Überlegungen erklären lässt.

Verschiedene Rohstoffe könnten knapp werden
Vielleicht findet mit und nach der Corona-Krise statt, was der langjährige Vorsitzende des Sachverständigenrates, dem Rat der fünf Weisen, Bert Rürup als „kopernikanische Wende“ der Geldpolitik bezeichnet. Es kann gut sein, dass nun die Stunde der „Modern Monetary Theory“ schlägt.

Damit würde die Geldpolitik zur Gehilfin der Fiskalpolitik degradiert und das Ende der Politik unabhängiger Zentralbanken eingeläutet. Für den Monetarismus und viele deutsche Geldtheoretiker und -politiker eine grauenhafte Vorstellung – aber nichtsdestoweniger möglicherweise nicht so weit von der Realität der 2020er-Jahre entfernt. Werden in nächster Zeit die Güterpreise steigen, weil die Kosten für deren Herstellung zunehmen? Unmöglich ist das nicht. Aber wird es auch in bedrohlichem Ausmaß tatsächlich der Fall sein? Eher nicht.

In Einzelfällen kann es als Folge der Corona-Lockdown-Politik zu Versorgungsengpässen kommen, verschiedene Rohstoffe mögen vorübergehend knapp werden – das zeigt sich momentan beim Stahl. Gerade, wenn nach Impfungen eine Herdenimmunität erreicht wird und die Wirtschaft wieder durchstarten kann, werden einzelne, jedoch kaum alle Preise steigen.

Eine Generation von Sparern erlebt eine regelrechte Zinsschmelze
Aber wahrscheinlicher dürfte sein, dass in schlechten Zeiten mit schlechtem Absatz Überkapazitäten entstanden sind und Lager aufgebaut wurden. Waren vor der Corona-Krise Arbeits- und vor allem Fachkräfte knapp und entsprechend teuer, sieht es momentan anders aus und dürften hohe Lohnforderungen wenig Erfolgsaussichten haben.

Und schließlich haben die Zentralbanken mehr Spielraum für steigende Zinssätze, als den Finanzmärkten und hochverschuldeten Staatshaushalten lieb ist. Sie haben alle Instrumente in der Hand, um entflammende Inflationserwartungen frühzeitig einzudämmen.

Natürlich ist es nie falsch, alle denkbaren Risiken aufzuspüren. Selbst wenn für eine Rückkehr der Inflation weder stichhaltige noch überwältigende Argumente zu finden sind, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich Entwicklungen überstürzen und Verhältnisse radikal ändern.

Am Ende des Jahres 2020 bedarf es hierzu keiner weiteren Veranschaulichungen, wie rasch über Nacht vermeintliche Gewissheiten einstürzen und garantierte Sicherheiten zusammenbrechen.

Der Preiswettbewerb dürfte noch härter werden
Ja, es kann alles ganz anders kommen als erwartet. Die Globalisierung, die für tiefe Preise sorgte, wird nach der Pandemie anders aussehen als zuvor. Aber mit der Digitalisierung steht bereits der nächste Inflationsfresser in den Startlöchern.

Nachdem die Corona-Krise dem Onlinehandel eh schon starken Auftrieb gegeben hat, dürfte der Preiswettbewerb noch einmal härter und nicht sanfter werden. Das billigere Angebot ist bloß noch einen Mausklick entfernt. Inflationserwartungen als Folge steigender Preise sollten dadurch weiter abgeschwächt werden.

Somit bleibt auch dem „Economist“ am Ende nichts anderes übrig, als einzugestehen, dass erneut aufgekochte Inflationsaufregungen eher künstlich aufgebauscht als durch reale Tatsachen belegbar sind. „Eine Erholung von der Pandemie, die nicht durch übermäßige Inflation beeinträchtigt wird, ist wahrscheinlich“ – so das Fazit des Leitartikels.

Dass es für eine entspannte Erwartung keine Garantie gibt, ist richtig. Aber zumindest kann ein Szenario ohne bedrohliche Inflation für absehbare Zeiten die höchste Wahrscheinlichkeit aller heute erkennbaren Zukunftsaussichten beanspruchen.

Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg